Erste topaktuelle Ergebnisse aus der Jugendwertestudie 2021 kommentiert aus der Sicht des Kinder- und Jugendpsychotherapeuten Dr. Reinhard Pichler
Die T-Factory Trendagentur hat in Kooperation mit dem Institut für Jugendkulturforschung vom 24. Februar bis 10. März 2021 1000 repräsentativ ausgewählte österreichische Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 29 Jahren zu ihrem Leben in der Corona-Krise befragt.
Zugenommen hat die Instiutionenpolitikverdrossenheit, die Sehnsucht nach Sicherheit, Halt und das Zusammensein mit Freunden. Impfskepsis sowie eine pessimistische Einstellung gegenüber der Zukunft auf gesellschaftlicher Ebene sind stark ausgeprägt, hingegen aber nicht so sehr die persönliche, zweckoptimistische Sicht auf die Welt: „ich selbst werde es schon schaffen!“ So ist es auch folgerichtig, dass die Angst an Corona zu erkranken sich im Vergleich zu März 2020 deutlich verringert hat. Daher lehnt die Mehrheit der Befragten auch die Corona Maßnahmen aufgrund der Strenge ab!
Wie erlebe ich als Kinder- und Jugendpsychotherapeut in meiner Praxis Jugendliche aus unterschiedlichen Bildungsschichten in Zeiten, wo vieles von Corona bestimmt wird? Zunächst wollen mich die Jugendlichen lieber persönlich sehen als virtuell. Sich wirklich öffnen geht leichter persönlich als am Bildschirm oder am Telefon.
Die Pandemie ist ein Ausnahmezustand, der mittlerweile – nicht nur für Jugendliche – schon zu lange anhält. Die Sehnsucht nach Sicherheit und Halt in der Gegenwart als auch in der Zukunft ist eine logische Folge des Erlebten. In Zeiten vor Corona konnte man in Österreich überwiegend von Planbarkeit sprechen, die für Jugendliche und junge Erwachsene derzeit nicht ausreichend wahrnehmbar ist.
Erwartungen kurzfristiger Natur (Lockerungen, Maßnahmen) werden kollektiv seit einem Jahr nicht konsistent genug präsentiert. Jeder rechnet ständig mit Verlängerungen oder diversen Maßnahmen, was zu Unsicherheit und Ungeduld führt. Beispielsweise müssen bereits vergebene Praktikumsplätze aufgrund von neuen Richtlinien abgesagt werden, die Jobsuche gestaltet sich unsicherer und unplanbarer als vor 2020 und einen Job zu behalten ist gerade für junge Menschen unsicher. Angst voreinander und Konkurrenzdruck sind die Folge.
Schulen müssen sich oft unfreiwillig „flexibel“ an die Vorgaben der Regierung anpassen und ein Treffen mit Freunden und Großfamilie ist, wenn überhaupt, nur eingeschränkt möglich. Viele Jugendliche haben dabei den Eindruck wahrscheinlich etwas Unrechtmäßiges zu tun und möglicherweise andere zu gefährden. Die Angst, dass ein Angehöriger durch sie angesteckt wird und erkrankt, ist enorm belastend. All diese Erlebnisse machen einen Blick in die Zukunft spekulativer, als es noch vor der Pandemie war.
Das Gefühl von Sicherheit kann kollektiv erst wiederhergestellt werden, wenn sich die lang ersehnte Normalität wieder in unserer wahrgenommenen Realität verankert. Einstweilen kann bei gefühlter Haltlosigkeit durch Resilienztraining eine Verbesserung erreicht werden, um standhafter in eine bessere Zukunft blicken zu können. Dies wird aber von Jugendlichen der unteren oder mittleren Bildungsschicht nicht als erstrebenswert angesehen.
Viele Klientinnen und Klienten in meiner psychotherapeutischen Praxis klagen über diffuse Ängste, depressive Verstimmungen und Motivationslosigkeit, abwechselnd von Wutausbrüchen oder für sie selbst unangenehmen extremen Stimmungsschwankungen. Sinnsuche als Ausweg gestaltet sich schwierig, weil den jungen Menschen kostbare Jahre verloren gehen, die sie für sich nicht wieder einholen können. Auslandsaufenthalte während des Studiums, Praktika in den Ferien oder Reisen in der Jugend sind fast unmöglich geworden.
Eine steigende Politikverdrossenheit ist wenig überraschend, da durch die beschriebenen Umstände und die immer wiederkehrenden Rückschläge, die durch die Regierung an die Bevölkerung vermittelt wird, für Zweifel sorgen. Viele „gute“ Nachrichten werden im Nachhinein von negativen Schlagzeilen überschattet. Durch soziale Medien schaukeln sich hitzige Themen leichter auf als früher und können zu einem David gegen Goliath Effekt „Wir Kleinen gegen die Großen“, führen. Dass die Impfskepsis zunimmt, lässt sich auch anhand dieser These gut erklären.
Ein weiterer Grund für die Politikverdrossenheit kann auch sein, dass ein Jahr voller coronalastigen Meldungen und Debatten, selbst Politikinteressierte zu einer Auszeit bewegt. Was der Jugendliche ohnehin von der omnipräsenten Krise mitbekommt, ist mehr als ausreichend. Sich eine Pause von Themen zu nehmen, die einen belasten, ist aber auch eine gute Möglichkeit, um Körper und Geist Ruhe von Angst und Ungewissheit zu geben. Hier kann ich die Jugend gut verstehen.
Für Politik ist es jetzt, aufgrund der sich schleppenden Erfolge die Pandemie einzudämmen, besonders schwer, das Vertrauen von Jugendlichen wieder zu gewinnen. Ein wichtiger erster Schritt kann sein, mit ihnen, statt über sie, zu diskutieren. Wie die Studie zeigt, fühlen sich viele junge Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten nicht ernst genommen, was zu einem großen Vertrauensverlust führt. Es ist sehr wichtig, dass die Politik viel mehr auf die Bedürfnisse Jugendlicher eingeht, statt ihnen das Recht auf eigene Probleme abzusprechen.
Von den überwiegenden Nachteilen abgesehen, gab es auch für die junge Generation positive Entwicklungen: das Vorantreiben der digitalen Infrastruktur. Ein flexibleres Arbeiten durch Home Office, welches für sehr unwahrscheinlich gehalten wurde, ist nun Realität. Dieses Voranschreiten öffnet, auch nach der Pandemie, viele neue Perspektiven. Für Schulen wäre es nun wichtig, diese Entwicklung weiter zu fördern. Die Digitalisierung steht erst am Anfang und ein offeneres, flexibleres Arbeitskonzept für die Zukunft Jugendlicher muss stärker als bisher in Betracht gezogen werden. Internetkompetenz zu besitzen und zu verstehen, wie diese schnelle und digitale Welt funktioniert ist essenziell, um jüngeren Generationen die Möglichkeit zur Reflexion mit auf den Weg zu geben.
Es bilden sich aktuell unzählige, neue potenzielle Berufe, von denen man vor einigen Jahren noch nichts ahnen konnte. Deshalb ist es u.a. wichtig, Jugendlichen die nötigen Fähigkeiten mitzugeben, um den Wandel für sich nutzen zu können, um ihre Talente einzusetzen und ihrem Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Freiheit nachgehen zu können. Ihr selbstbezogener Optimismus zeigt, dass junge Menschen den Glauben an ihre eigene Zukunft nicht verloren haben, weshalb eine auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Förderung, schneller gute Ergebnisse verzeichnen kann, als man vermuten würde.
Aus psychotherapeutischer Sicht nehme ich eine verstärkte Vereinsamung hinter dem Bildschirm wahr und unterschiedliche Suchttendenzen wie Nachrichtengier, alleiniger Zeitvertreib mit den sozialen Medien oder mit „Zocken“ sowie eine Zunahme an Pornosucht, auch bei jungen Frauen.
Religion bleibt ähnlich wie die Politik für die Jugendlichen belanglos. Dies ist umso trauriger, da die Sehnsucht nach Halt, Schutz und Geborgenheit sehr hoch ist, aber in – den auch sehr eingeschränkten – religiösen Angeboten nicht mehr gefunden werden kann. Familie, Freizeit, Bewegungs- und Reisefreiheit sowie Freunde sind am wichtigsten. Freunde verlieren jedoch an Relevanz, weil die jungen Menschen derzeit nicht die Möglichkeit haben, Freunde zu treffen. Die Kommunikation unter ihnen verarmt. Gemeinsam lachen, diskutieren, Abenteuer erleben. Das alles fehlt zunehmend und kann nicht ausreichend durch digitale Kommunikation ersetzt werden.
Es tut den Jugendlichen weh, zu merken, dass sie vom Establishment nicht ernstgenommen werden! Ihnen wird eher selten zugestanden, dass ihre Probleme wichtig sind. Mit dem Argument „Stell dich nicht so an, wir haben das auch geschafft!“ ist die junge Generation immer die letzte, an die gedacht wird. Die ungehörte Stimme der am meisten Betroffenen, nämlich der Jugendlichen, ist für die ältere Generation, die politischen Entscheidungsträger und die Glaubensgemeinschaften ein Aufruf an diejenigen zu denken, die ihre Zukunft noch vor sich haben.