Um die Parentifizierung, also die Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind, auflösen zu können, ist es wichtig, alle Aspekte davon zu verstehen. In diesem Blogartikel erkläre ich Ihnen ein paar Sonderformen der Parentifizierung und gebe Ihnen Tipps, wie Sie die Parentifizierung erkennen und auflösen können.
Umgekehrte Parentifizierung
Es geht auch umgekehrt: Wird die Parentifizierung lange genug durchgezogen, kann es passieren, dass Kinder, aufgrund dessen, dass sie ja wie ein Erwachsener behandelt werden, irgendwann von sich aus die Elternrolle übernehmen.
Auch, wenn die Eltern nach dem Konzept leben “mein Kind ist mein Partner/Kumpel/Kollege” oder extrem liberal mit ihren Kindern sind und keinerlei Grenzen setzen, kann es dazu kommen.
Wird also einem Kind ständig die Option gegeben, was es zu essen haben möchte, ob es den Spielplatz verlassen will, ob es jetzt nicht Hausaufgaben machen will, wird das Kind irgendwann verstehen, dass es zu allem, was es nicht möchte, nein sagen kann und komplett bestimmen kann.
Irgendwann beginnen Kinder dann Fehler in ihren Eltern zu sehen und werden diese anklagen und nicht respektieren und das machen, was sie wollen. Dann haben Eltern absolut nichts mehr zu melden oder können nur noch um ihre Wünsche flehen.
Das passiert oft im Jugendlichenalter und im Erwachsenenalter. Bis zu einem gewissen Grad ist ein Widerstand gegen die Eltern normal, immerhin werden wir so zu selbstständigen Erwachsenen, aber hier geht es um eine komplette Ablehnung und Abwertung der Eltern.
Es ist dann nicht mehr ein weiter Weg, bis die Kinder den Eltern mit Geringschätzung, Herablassung und Arroganz begegnen und sich für die Eltern absolut nicht mehr interessieren, sondern nur die eigenen Interessen verfolgen. Diese Art der Parentifizierung auflösen zu wollen, ist mindestens genauso schwer wie die “klassische” Parentifizierung aufzulösen.
Das soll jetzt nicht heißen, dass Kindern keine Optionen gegeben werden dürfen und man sie nur herumkommandieren soll, das ist genauso falsch, aber es muss Grenzen und Bestimmungen geben, damit Kinder auch diese Dinge lernen und der Respekt der Beziehung aufrechterhalten wird.
Parentifizierung im Erwachsenenalter
Die Parentifizierung im Erwachsenenalter ist immer schwierig zu erkennen. So ist es normal, sich um die alt gewordenen Eltern zu kümmern. Ist dieser Anspruch jedoch krankhaft aus der Kindheit übernommen worden, dass das eigene Glück und Leben des Kindes auf der Strecke bleiben muss, den Eltern zuliebe, so ist es anders.
Vor allem zeigt sich Parentifizierung im Erwachsenenalter durch Unterdrückung des Erfolgs des Kindes, sei es im Job oder in der Ehe, weil der respektive Elternteil sich nicht übertrumpft und überschattet vorkommen will.
Will sich der Erwachsene aus dieser Beziehung lösen, so ist es nur allzu häufig, dass die Eltern mit Liebesentzug drohen, das Kind als herzlos und egoistisch bezeichnen oder das schlechte Gewissen des Kindes so dermaßen verstärken, das dieses sich wieder in die Rolle unterordnet.
Eine psychotherapeutische Betreuung ist oft notwendig, um diese Art der Parentifizierung auflösen zu können, da diese Menschen erst wieder lernen müssen, sich selbst zu fühlen und sich selbst kennen zu lernen. Wenn Sie mehr zum Thema Gefühle lernen wollen, dann empfehle ich Ihnen sich folgendes Video anzusehen:
Doppelbindung und Loyalitätskonflikte
Doppelbindung oder “Double Binds”, wie es im Englischen heißt, beschreibt das Problem, wenn ein Mensch zwei Dinge gleichzeitig ausführen soll, die komplett widersprüchlich sind (z.B. gleichzeitig springen und am Boden bleiben).
Das kann übrigens tatsächlich verrückt machen – es gibt Fälle, bei denen Kinder wegen diesem ständigen, inneren Widerspruch, den sie von klein auf fühlen mussten, schizophren wurden.
Das Teuflische an Doppelbindung ist, dass es absolut keinen Ausweg aus der Situation gibt. Wie es das Kind macht, macht es es falsch: Geht es dem einen Problem nach, bleibt das andere liegen, und umgekehrt. Es gibt einfach für diese Situation keine richtige Lösung, aber auch kein Davonlaufen davor.
Die zwei krankhaften Möglichkeiten, die das Kind dann hat, sind, entweder komplett zu erstarren oder in eine Richtung zu gehen, indes es aber gleichzeitig vorgibt, in die andere Richtung unterwegs zu sein.
Das Kind muss also beiden Seiten gefallen, aber gleichzeitig darf die andere Seite von den Aktivitäten für die Gegenseite nichts erfahren.
Doppelbindung wird durch Eltern oft verdeckt kommuniziert. “Halte zu mir, aber zeige es nicht.” “Sei gleichzeitig mein Partner, aber auch mein Kind, denn ich will beides.”
Sie sehen also: Das Kind kann hier nicht richtig agieren.
Doppelbindung zu erkennen ist essentiell, um Parentifizierung gesund aufzulösen!
Loyalitätskonflikte wiederum haben ebenfalls unterschiedliche Gesichter. Bei Scheidungen sind sie häufig, weil das Kind dazu gezwungen wird, sich für einen Elternteil zu entscheiden, obwohl es beide Eltern braucht und liebt.
Bei Erwachsenen ist es oft so, dass Kinder Eltern pflegen müssen und deswegen eine Ausbildungs- oder Karrierechance sausen lassen, wenngleich es für die Pflege andere Möglichkeiten gäbe.
Um wieder das Beispiel der Übertragung von unerfüllten Wünschen und Karriere aufzugreifen, ist auch typisch für einen Loyalitätskonflikt, dass die Eltern bestimmen, was das Kind als Ausbildung machen soll, damit es “es einmal besser hat”, egal, ob das Kind das will oder nicht. Das Kind will die Erwartungen der Eltern nicht enttäuschen, obwohl es etwas anderes möchte.
Menschen, die in einem Loyalitätskonflikt stehen, wollen Unmögliches möglich machen. Sie wollen an zwei Orten gleichzeitig sein oder wollen sich selbst immer hintanstellen (den anderen zuliebe). Und dadurch, dass sie vermutlich dazu erzogen wurden, selbstunsicher zu sein und immer auf andere zu hören, werden sie das vermutlich auch tun – bis zum Zusammenbruch.
Loyalitätskonflikte müssen erkannt und verstanden werden, um das Auflösen der Parentifizierung möglich zu machen.
Die Parentifizierung auflösen
Der wichtigste Schritt aus der Parentifizierung ist, dass einem die krankhafte Bindung an einen oder beide Elternteile bewusst wird. Als Kind oder Jugendlicher ist das fast immer so gut wie unmöglich. Auch als Erwachsener ist es schwierig, aber da oft mehr Distanz und Perspektive vorhanden ist, ist es machbarer, wenngleich auch viele Parentifizierungen nie erkannt werden.
Auch ist es wichtig für die Betroffenen, zu sich selbst zu finden, also die eigenen Grundbedürfnisse und Wünsche kennen zu lernen. Es ist wichtig, dass man sich eingesteht, dass man von einem oder beiden Elternteilen ausgenutzt wurde, ohne die eigenen Bedürfnisse zu decken. Denn: Jeder Mensch sehnt sich nach Anerkennung und Sicherheit von den Eltern, auch als Erwachsener.
Beobachten Sie, ob Sie zu etwas ohne schlechtes Gewissen “nein” sagen können, das von Ihnen verlangt wird. Haben Sie damit Probleme, dann ist es wahrscheinlich, dass Sie auch nicht “ja” zu sich selbst sagen können. Es ist ein recht einfacher Weg, herauszufinden, ob man ohne Schuldgefühle für sich da sein kann.
Warum Schuldgefühle nur allzu häufig vorhanden sind, wenn Kinder unter Parentifizierung leiden, liegt auf der Hand: Sie mussten ständig Unmögliches zu erreichen versuchen und scheiterten dabei unweigerlich. Zurück bleibt das Gefühl, dass sie einfach nicht gut genug für diese Welt sind und nichts richtig machen können. Hier dazu ein Video von mir:
Stellen Sie sich also folgende Fragen:
- Kann ich ohne schlechtes Gewissen “nein” zu etwas sagen, was meine Eltern von mir verlangen?
- Habe ich in meinem Leben meine Wünsche und Träume hintangestellt, um für meine Eltern da zu sein?
- Verlangen meine Eltern von mir, sie vor alles andere in meinem Leben zu setzen?
- Habe ich die Phrase “Wir meinen es ja nur gut mit dir.” allzu oft bei kontroversen Themen und Streits gehört?
- Haben mir meine Eltern vorgeworfen, egoistisch zu sein, wenn ich einmal nicht zu 100% so getan habe, wie sie das wollten?
- Fühle ich mich ständig meinen Eltern verpflichtet?
Haben Sie mehrere dieser Fragen mit “Ja” beantwortet, so ist eine Parentifizierung wahrscheinlich.
Suchen Sie Hilfe!
Damit das Auflösen der Parentifizierung wirklich gelingt, sollten Sie sich nicht scheuen, Hilfe zu suchen, in Form von Partner, Familie oder Therapeuten, denn das ist immer sehr schwierig und sehr schmerzhaft.
Oft ist die Hilfe eines Psychotherapeuten am sinnvollsten, denn es ist nicht nur wichtig, dass das Kind die falsche Beziehung erkennt, sondern auch die Eltern, damit eine sinnvolle und friedliche Lösung dieser krankhaften Beziehung passieren kann.
Machen Sie sich aber auch bewusst, dass wenn Ihre Eltern ihre Fehler absolut nicht einsehen, dass eventuell nur ein Kontaktabbruch zu den Eltern Ihnen hier Frieden schaffen kann. Zwar ist das kein schönes Ende für die Sache, und tut weh, aber es ist manchmal leider die einzige Möglichkeit, aus diesem Netz zu entkommen:
Fazit
Die umgekehrte Parentifizierung und die Parentifizierung im Erwachsenenalter sind besonders schwierig zu lösen, da ein dermaßen starker Einfluss auf das Opfer besteht, dass es selbst erst langsam wieder “zur Normalität” zurückgeführt werden muss.
Doppelbindung und Loyalitätskonflikte machen die Parentifizierung zu einem Netz, aus dem es kein Entrinnen gibt und das in der Tat verrückt machen kann. Daher ist das Auflösen der Parentifizierung immer schwierig und bedarf oft professioneller Hilfe.