Warum Suchterkrankungen eine Krankheit des Gehirns sind
Ob Alkoholabhängigkeit, Magersucht oder Internetsucht: Lesen Sie, woran Sie Suchterkrankungen erkennen, wie sie entstehen und wie sie behandelt werden.
Welche Anzeichen deuten auf eine Suchterkrankung?
Suchterkrankungen bezeichnet man heute auch als Abhängigkeitserkrankungen. Die Abhängigkeit kann dabei körperlicher und/oder psychischer Art sein. Eine Abhängigkeit besteht dann, wenn mindestens 3 der folgenden 6 Symptome vorliegen:
- Verlangen: Starkes Verlangen nach einer Substanz oder einem Verhalten, dem der Betroffene kaum widerstehen kann. Der Fachausdruck dafür ist „Craving“.
- Kontrollverlust: Der Betroffene hat nur mehr verminderte oder keine Kontrolle in Hinblick auf Beginn, Beendigung und Menge des Konsums/Verhaltens (z.B. nicht aufhören zu trinken, bis man einen Vollrausch hat oder nicht aufhören zu spielen, bis die Taschen leer sind).
- Entzugssymptome: Bei Absetzen der Substanz oder Einstellung eines Verhaltens treten Entzugssymptome auf (z.B. Unruhe, Zittern, Schwitzen, Ängste, Gereiztheit, Aggression).
- Toleranzentwicklung: Die Dosis der Substanz bzw. Suchtverhalten muss gesteigert werden, um die gleiche Wirkung zu erzielen.
- Interessensverlust: Andere Interessen (z.B. Familie, Freunde, Hobbies, Job) werden zugunsten der Sucht immer mehr vernachlässigt. Die Erlebniswelt und der Tagesablauf des Betroffenen engen sich immer mehr auf die Sucht ein.
- Zwang: Das zu Grunde liegende Problemverhalten nimmt zwanghaften Charakter an, d.h. der Konsum/das Verhalten wird fortgeführt trotz des Wissens um negative körperliche, psychische oder soziale Folgen.
- Folgeschäden: Der Konsum einer Substanzmenge bzw. ein Suchtverhalten verursacht ernsthafte Schäden.
Wenn die hier genannten Abhängigkeitskriterien nicht erfüllt sind, der Konsum aber zu körperlichen oder psychischen Problemen führt, handelt es sich noch nicht um eine Suchterkrankung. Man spricht dann von schädlichem Gebrauch/Verhalten.
Welche Arten von Suchterkrankungen gibt es?
Der Begriff „Sucht“ wurde sehr lange vor allem mit der körperlichen Abhängigkeit von Substanzen gleichgesetzt. Es wird allerdings immer üblicher den Begriff „Sucht“ auch auf nicht substanzgebundene Verhaltensüchte auszudehnen:
- Substanzgebundene Suchtformen: Alkohol, Tabak, Kaffee, Medikamente (z. B. Beruhigungs- und Schlafmittel), Drogen (Heroin, Morphin, Marihuana, Kokain, Amphetamine, Ecstasy, Speed, LSD, Pilze, etc.)
- Nicht Substanzgebundene Suchtformen: Spielsucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Porno- oder Sexsucht, Essstörungen (Magersucht, Esssucht), Mediensucht (TV, Chatten, Surfen, Social Media, Games, etc.).
Suchterkrankungen können sich also auf ganz unterschiedliche Weise äußern und sind nicht nur auf den Mißbrauch von Substanzen begrenzt.
Welche Faktoren begünstigen Suchterkrankungen?
Grundsätzlich kann jeder Mensch abhängig werden. Eine typische Suchtpersönlichkeit gibt es nicht. Auf das Suchtrisiko eines Menschen und die tatsächliche Entstehung einer Suchterkrankung haben verschiedene Faktoren einen Einfluss. Zu diesen Faktoren gehören:
- Genetische Faktoren: Wenn Eltern oder andere Verwandte abhängig sind, erhöht sich das Risiko, selbst abhängig zu werden. Das gilt auch dann, wenn man nicht in deren unmittelbarer Umgebung aufwächst. Die genetische Komponente sollte allerdings nicht überbewertet werden. Jeder Mensch hat genetisch gute und schlechte Karten – entscheidend ist, was man daraus macht.
- Verhaltens- und Lernfaktoren: Wer in einem Umfeld mit abhängigen Personen aufwächst oder lebt, hat ein erhöhtes Risiko, selbst abhängig zu werden. Kinder von Alkoholikern haben beispielsweise eine deutlich höhere Alkoholikerquote. Negative Erfahrungen in der Kindheit und die falsche Vorbildfunktion der Eltern spielen daher neben genetischen Faktoren eine große Rolle.
- Andere Erkrankungen: Wenn eine psychische oder körperliche Erkrankung besteht, hat der Betroffene ein erhöhtes Risiko suchtkrank zu werden, insbesondere wenn die Sucht zur Linderung von Symptomen (z.B. Angstzuständen) eingesetzt wird. Eine Kombination aus Suchterkrankung und psychischer Erkrankung (Komorbidität) tritt vor allem bei Depressionen und Persönlichkeitsstörungen wie Angsterkrankungen und Zwangserkrankungen
- Lebenskrise: Selbst gefestigte Charaktere können durch länger andauernde soziale, familiäre oder berufliche Probleme wie auch generelle Sinnkrisen oder traumatische Erlebnisse in eine Abhängigkeit rutschen.
- Verträglichkeit: Insbesondere in Hinblick auf den Missbrauch einer Substanz gilt: Je angenehmer die Wirkung und je besser die körperlichen Folgen z.B. eines Rausches vertragen werden, desto höher ist auch die Gefahr eines Missbrauchs.
Die Entwicklung von Suchterkrankungen ist also nicht ein Versagen der betroffenen Person, sondern meist die Folge einer längeren Entwicklung, aus der der Betroffene oftmals nur mit professioneller Hilfe herausfinden kann. Sucht ist keine Schwäche, sondern eine Krankheit!
Wie entstehen Suchterkrankungen?
Sucht bzw. die Abhängigkeit von einem Stoff oder einem Verhalten wird durch eine Fehlsteuerung des Belohnungssystems im Gehirn hervorgerufen. Der dabei ablaufende Prozess lässt sich wie folgt überblicksmäßig beschreiben:
- Glückshormone: Das Gehirn schüttet verstärkt Hormone wie Dopamin aus, wenn man etwas als positiv wahrnimmt. Wir haben ein Gefühl von Glück oder Euphorie (=Belohnung).
- Aktivierung durch verschiedenste Reize: Substanzen wie Alkohol, Zigaretten oder Drogen, aber auch Stoffe ohne Suchtpotenz wie Schokolade oder Essen allgemein, sowie Verhaltensweisen wie Einkaufen, Surfen im Internet oder Glücksspiele können diese Wirkung ebenfalls auf unser Belohnungssystem haben. Drogen aktivieren die Dopamin-Rezeptoren besonders intensiv, woraus sich die das hohe Suchtrisiko ableiten lässt.
- Störung des hormonellen Gleichgewichts: Der Körper gewöhnt sich an den erhöhten Dopaminspiegel, wenn man das, was einen glücklich macht, öfter konsumiert bzw. tut. Dadurch verschiebt sich das hormonelle Gleichgewicht im Gehirn und die körpereigene Hormonproduktion sinkt.
- Fehlsteuerung Belohnungssystem: Sinkt die körpereigene Hormonproduktion, dann verschlechtert sich die Stimmungslage. Instinktiv wird dann der Drang stärker, das Suchtmittel zu konsumieren bzw. das Verhalten zu wiederholen, um auf diesem Weg das nicht mehr vom Körper produzierte Dopamin auszuschütten. Ist der Dopaminspiegel wieder auf einem bestimmten Level, stellt sich wieder Wohlbefinden ein.
- Steigerung: Da das Belohnungssystem mit der Zeit abstumpft, tritt nie ein echtes Sättigungsgefühl ein. Um denselben Effekt zu erzielen, muss die Dosis daher immer wieder erhöht werden.
Einfluss des Gehirns wissenschaftlich nachgewiesen
Die enge Verknüpfung von Suchterregern und Belohnungssystem lässt sich sehr deutlich mit diversen bildgebenden Verfahren zeigen. So leuchtet beispielsweise im Hirnscanner schon der sogenannte Nucleus accumbens auf, wenn einer kokainabhängigen Person die Droge nur angeboten oder ein Video gezeigt wird, in dem jemand Kokain zu sich nimmt. Dieselbe Aktivierung im Nucleus accumbens konnte auch bei Glücksspiel, Computerspielen oder sonstigen Suchtpotentialen nachgewiesen werden.
Aber nicht nur der Nucleus accumbens spielt bei Sucht eine Rolle: Auch in den Regionen der Amygdala (emotionale Färbung der Erinnerung) und des Hippocampus (Ablegen von Erinnerungen) zeigen ehemals Abhängige Veränderungen. Das erklärt, warum sie auch nach vielen Jahren Abstinenz bei Stress oder durch eine Erinnerung rückfällig werden können.
Lebenslange Gefahr einer Reaktivierung
Botenstoffe im Gehirn spielen somit eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Süchten. Um von der Sucht loszukommen, muss durch einen Entzug im Gehirn wieder ein gesundes Gleichgewicht hergestellt werden. Wenn aber z.B. ein trockener Alkoholiker selbst nach längerer Abstinenz wieder zu trinken beginnt, springen die oben genannten Mechanismen im Gehirn schnell wieder an. Das ist auch der Grund, warum ein kontrollierter Konsum für einen ehemals Süchtigen oft kaum möglich ist.
Welche Suchttypen gibt es?
Es gibt zwar keine typische Suchtpersönlichkeit, jedoch verschiedene Ursachen bzw. Motivationen, die einer Sucht zugrunde liegen. Die nachfolgende Klassifizierung in vier Grundtypen lehnt sich an die Typologie von Dr. Lesch an, die für alkoholkranke Menschen konzipiert wurde, aber auch auf andere Suchtformen umgelegt werden kann:
Typ I – Erbfaktoren: Betroffene haben eine genetische Disposition, die sie für gewisse Süchte anfälliger macht. Sie sind in erster Linie körperlich abhängig und haben entsprechend starke Entzugssymptome. So haben beispielsweise 29 Prozent der alkoholkranken Menschen eine Alkoholstoffwechselstörung (Überaktivität der Aldehyddehydrogenase), die sie wesentlich schneller abhängig macht als andere Menschen. Andere wiederum sind genetisch bedingt einfach triebhafter und verfallen leichter in eine Sexsucht.
Typ II – Angst- und Konfliktlösung: In dieser Gruppe finden sich meist unsichere, ängstliche Persönlichkeiten, die eine Substanz oder ein Verhalten aufgrund der angstlösenden Wirkung und als Beruhigungsmittel in Konfliktsituationen einsetzen. Alkohol und Drogen erleichtern es, einer schwierigen Realität zu entfliehen oder um nichts zu spüren. Auch Beziehungssucht findet hier oftmals seine Wurzeln, wenn jemand Angst davor hat, allein zu leben. Psychotherapeutische Maßnahmen, mit denen das Selbstwertgefühl der Betroffenen gestärkt wird, stehen hier im Vordergrund der Therapie.
Typ III – Stimmungsaufhellung: Hier sind häufig sehr leistungsorientierte Persönlichkeiten zu finden, die Suchtverhalten als Antidepressivum einsetzen. Der Sucht liegt also in der Regel eine psychische Erkrankung zugrunde, die behandelt werden sollte.
Typ IV – Normalität: Menschen dieser Gruppe kommen häufig aus desolaten sozialen Verhältnissen, die ihnen keinerlei Halt und Sicherheit boten. Die Betroffenen sind häufig sozial depraviert (wohnungs- und arbeitslos) und sehr isoliert. Das Suchtverhalten ist für sie etwas Normales. Häufig sind sie bereits in Kindheit und Jugend mit schweren Verhaltensstörungen auffällig, die auf hirnorganische Schäden zurückzuführen sind. Sie brauchen eine intensive psychosoziale Betreuung.
Wie werden Suchterkrankungen behandelt?
Ziel jeder Therapie ist der völlige Verzicht auf den Suchtstoff bzw. das Suchtverhalten, denn nur wenige schaffen einen kontrollierten Gebrauch. Sowohl bei psychischer als auch körperlicher Abhängigkeit ist eine psychotherapeutische Behandlung in Form einer Verhaltenstherapie oder anderer passender Therapiemaßnahmen unerlässlich.
Eine stationäre Behandlung in einer Klinik ist bei substanzgebundenen Suchterkrankungen zur Entgiftung (körperlicher Entzug 1- 3 Wochen) und Entwöhnung (2-4 Monate) grundsätzlich erforderlich. Aber auch bei Verhaltenssüchten wie z.B. Internetsucht kann ein stationärer Aufenthalt sinnvoll sein, wenn der Betroffene kaum noch Kontakt zur Außenwelt hat. Wenn das Internet wichtiger geworden ist, als alles andere, hilft oft nur noch die Behandlung in einer Klinik.
Fazit: Suchterkrankungen
Suchterkrankungen entstehen als Folge verschiedener Faktoren: Erbanlagen, das soziale Umfeld, schwierige Lebenssituationen oder bereits bestehende Erkrankungen bereiten oft den Boden für das Entstehen einer Sucht. Werden Belohnungsmechanismen im Gehirn durch den Missbrauch von Substanzen oder schädliches Verhalten aus dem Gleichgewicht gebracht, entsteht mit der Zeit eine Abhängigkeit, die der Betroffene nicht mehr kontrollieren kann. Psychotherapeutische Behandlung z.B. in Form einer Verhaltenstherapie und körperlicher Entzug unterstützen den Betroffenen dabei, das Gleichgewicht im Gehirn wiederherzustellen und Probleme, die das Entstehen der Sucht begünstigt haben, zu lösen.