Zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Zwangserkrankung
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung ist im Gegensatz zu anderen Persönlichkeitsstörungen relativ unbekannt und wird häufig mit der Zwangsstörung verwechselt. In diesem Beitrag stellen wir Ihnen beide Krankheitsbilder vor, grenzen sie voneinander ab und zeigen Beispiele wie auch therapeutische Behandlungsmöglichkeiten auf.
Zwang ist gefrorene Angst
Die genauen Ursachen der zwanghaften Persönlichkeitsstörung oder Zwangserkrankung sind noch nicht zur Gänze geklärt. Allerdings besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass bei den meisten Betroffenen psychische Belastungen für die Störung bzw. Erkrankung verantwortlich ist. Auch genetische Faktoren können eine Rolle spielen.
Insbesondere Traumatisierungen in der frühen Kindheit wird hier eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Meist handelt es sich dabei um starke emotionale Vernachlässigung, elterliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch. Im Falle einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung liegt die Ursache oft in einer übermäßig strengen und kontrollierenden Erziehung.
Der Zwang ist nichts anderes als Ausdruck der „gefrorenen“ Angst. Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung begegnen dieser Angst mit zwanghafter Kontrolle, während bei einer Zwangserkrankung Betroffene ihre Erlebnisse durch zwanghafte Gedanken und Handlungen zu bewältigen versuchen. In beiden Fällen handelt es sich um Schutzmechanismen, die Sicherheit geben, aber letztlich nicht mehr sinnvoll sind.
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung kann einer Zwangserkrankung vorausgehen. Denn werden traumatische Erlebnisse nicht behandelt, dann besteht die Gefahr, dass sich eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung zu einer weitaus belastenderen Zwangserkrankung entwickelt.
Abgrenzung: Zwanghafte Persönlichkeitsstörung – Zwangserkrankung
Zwänge können sich in Form einer Persönlichkeitsstörung oder Angststörung manifestieren. Nachfolgende eine kurze Gegenüberstellung zum besseren Verständnis:
- Zwanghafte Persönlichkeitsstörung: Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung haben – wie der Name bereits verrät – eine Persönlichkeitsstörung, d.h. sie erkennen nicht, dass ihre Gedanken oder ihr andauerndes Bedürfnis nach unflexibler Kontrolle jedes Lebensbereichs irrational und problematisch ist.
- Zwangserkrankung: Eine Zwangserkrankung (auch: Zwangsstörung, Zwangsneurose) hingegen ist eine Angststörung, die mit inneren Zwängen verbunden ist, denen Betroffene nur durch das Ausleben zwanghafter Gedanken oder Handlungen begegnen können. Menschen mit dieser Störung ist in der Regel die Irrationalität ihrer Zwänge bewusst, können ihnen aber nicht wiederstehen.
Während also die Zwanghaftigkeit im Rahmen der zwanghaften Persönlichkeitsstörung als integraler Bestandteil der eigenen Person empfunden wird, werden die Symptome der Zwangsstörung als ich-fremd und nicht zur eigenen Persönlichkeit gehörend empfunden.
Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
In der Medizin wird die zwanghafte Persönlichkeitsstörung auch als Zwangspersönlichkeitsstörung oder anankastische Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Der Begriff wurde aus dem altgriechischen Wort Ananke abgeleitet und bedeutet „Zwang“ oder „Zwangsläufigkeit“. Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung versuchen durch Perfektionismus alles im Griff zu haben. Sie zeigen ein starres sowie perfektionistisches Denken und Handeln.
Symptome einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung
Als typische Merkmale der zwanghaften Persönlichkeitsstörung gelten Perfektionismus, Kontrollzwang, geistige Unbeweglichkeit, ängstliche Vorsicht und starke Zweifel. Folgende Eigenschaften oder Verhaltensweisen können bei einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung auftreten:
- Perfektionismus: Betroffene neigen dazu, sich zu viele Aufgaben vorzunehmen, die sie perfekt erledigen möchten. Übermäßige Gewissenhaftigkeit, Detailversessenheit und strenge Befolgung von Vorgaben sind Ausdruck dieses Strebens nach Perfektion. Dabei ist es allerdings unerheblich, ob die zu erledigende Aufgabe wichtig ist oder nicht. Betroffene sind oftmals unfähig, Prioritäten zu setzen – wichtige Dinge gehen unter, während unwichtigen Details übermäßig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Infolgedessen geht der Überblick verloren oder Aufgaben werden zwar detailliert geplant, dann aber nicht umgesetzt.
- Kontrollzwang: Betroffene leben in einem ständigen Bedürfnis nach Kontrolle. Jede Kleinigkeit in ihrer Umgebung muss kontrolliert werden. Andere Menschen müssen sich ihren Gewohnheiten unterordnen. So haben sie etwa große Schwierigkeiten damit, Verantwortung oder Aufgaben zu delegieren, weil sie der Meinung sind, dass die Aufgabe nicht so erledigt wird, wie sie sollte. Und wenn sie Aufgaben delegieren, dann muss die Erledigung genau nach ihrer detaillierten Anweisung erfolgen – auf andere Lösungen reagieren sie verärgert.
- Ängstliche Vorsicht: Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung haben Angst vor Fehlern und eine äußerst ausgeprägte Abneigung gegen Impulsivität oder Risiken. Unentschlossenheit, Zweifel und die damit verbundene Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen oder Aufgaben zu beenden, sind Kennzeichen für diese Eigenschaft (z.B. Versäumen von Abgabeterminen durch zwanghaftes 30-maliges Korrekturlesen).
- Extreme Leistungsorientierung: Arbeit und Leistung sind für Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung wichtiger als soziale Kontakte und Vergnügen. Die unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit führt zur Vernachlässigung von Beziehungen und Vergnügen bis hin zum vollständigen Verzicht. Spaß zu haben wird oft als reine Zeitverschwendung gesehen. Dasselbe gilt für Gefühle. Die Fähigkeit zum Ausdruck von Gefühlen ist häufig vermindert, zwanghafte Personen wirken daher kühl und sehr rational.
- Übersteigerter moralischer Anspruch: Eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung geht meist mit einer rigiden Vorstellung von Ethik und Moral einher, die von einem Schwarz/Weiß-Denken geprägt ist und keine Relativität, Fehler oder mildernde Umstände zulässt. Ihre Moral- und Wertvorstellungen sind das Maß aller Dinge und werden auch auf andere Menschen übertragen. Selbst kleine Fehler – die eigenen wie auch die anderer – werden als moralisches Versagen gewertet.
- Tendenz zum Horten: Das Horten ist zwar ein klassisches Symptom für Menschen mit einer Zwangserkrankung, kann aber auch bei Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung auftreten. Grundsätzlich steckt die Angst dahinter, etwas wegzuwerfen, das man vielleicht noch brauchen könnte – selbst dann, wenn es nicht mehr funktioniert und nutzlos ist (z.B. leere Batterien).
- Zwanghaftes Sparen: Nicht nur nutzlose Dinge, auch Geld wird gehortet. Das kann so weit gehen, dass selbst bei notwendigen Dingen gespart wird. Betroffene leben oft deutlich unter ihren Bedürfnissen oder haben teilweise sogar einen Lebensstandard, der als gesundheitsgefährdend bezeichnet werden kann – nur um Geld zu sparen. Sie können sich auch dann nicht von ihrem Geld trennen, wenn es eine nahestehende Person dringend braucht. Auch versuchen sie andere davon abzuhalten, Geld auszugeben.
- Sturheit: Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung sind extrem stur und unflexibel. Sie glauben immer das Richtige zu tun, akzeptieren keine Vorschläge und Fragen anderer. In ihrer Wahrnehmung gibt es keine Alternativen dazu, was und wie sie Dinge tun. Wer sich diesen Vorstellungen nicht unterwirft, ist für sie unkooperativ und unverantwortlich.
Eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung ist somit gekennzeichnet von schlecht angepassten Mustern im Denken und Handeln, die erheblichen Einfluss auf das Leben des Betroffenen nehmen. Der Kontrollzwang geht zulasten von Effizienz, Offenheit und Flexibilität und führt zu einer Besessenheit in Hinblick auf Ordnung, Perfektion, zwischenmenschliche und psychologische Kontrolle.
Zwangserkrankung
Eine Zwangserkrankung (auch: Zwangsstörung, Zwangsneurose) ist gekennzeichnet von wiederkehrenden unerwünschten Gedanken und zwanghaften Handlungen, die über einen längeren Zeitraum – meist gemeinsam – auftreten. Die Betroffenen wehren sich zwar gegen ihre Zwänge und erleben sie als übertrieben und sinnlos, können ihnen willentlich jedoch kaum etwas entgegensetzen. Körperliche Symptome wie Anspannung, Schwitzen, Herzklopfen oder Zittern sind oft ein Begleitsymptom innerer Zwänge.
- Zwangsgedanken haben oft aggressive, sexuelle oder belastende Inhalte, in denen es beispielweise um Infektionsängste geht oder die Vorstellung, sich oder andere zu verletzen.
- Zwangshandlungen treten überwiegend als Kontrollzwang, Waschzwang, Ordnungszwang, Wiederholungszwang oder Zählzwang auf.
Das Ausführen von Zwangshandlungen reduziert die erlebte Angst und Anspannung und stellt ein Gefühl von Sicherheit oder Richtigkeit her. Aufgrund der dadurch eingetretenen Entspannung erhöht sich der Drang, das Zwangsverhalten wiederholt auszuführen, wodurch sich die Zwangsstörung verfestigt.
Die Störung verursacht deutliche Belastungen und Beeinträchtigungen des Alltagslebens. Sowohl Zwangshandlungen, als auch Zwangsgedanken können Betroffene viele Stunden am Tag beanspruchen. Infolgedessen kommt es zu einer deutlichen Abnahme der Leistungsfähigkeit und zu einem Rückzug aus dem Freundes‐ oder Familienleben. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Zwangserkrankungen häufig von einer Depression begleitet sind – insbesondere auch deshalb, weil Zwangserkrankte um die Unsinnigkeit ihres Handelns wissen, aber keinen Ausweg sehen.
Wie sich eine Zwangserkrankung manifestieren kann
Zwangserkrankungen sind meist mit Ritualen verbunden und können sich auf unterschiedlichste Weise manifestieren. Auch steigert sich das Ausmaß der Zwangsgedanken und -handlungen im Laufe der Zeit, wenn die Erkrankung nicht therapeutisch behandelt wird.
Der Zwang zur Überprüfung, ob der Herd wirklich abgedreht ist, kann beispielsweise nach einiger Zeit dazu führen, dass der Betroffene nicht einmal mehr dann die Wohnung verlassen kann, wenn die Hauptsicherung herausgedreht ist. Ein Waschzwang kann sich dahingehend steigern, dass das Waschen selbst dann nicht beendet wird, wenn die Hände schon bluten.
Aber auch von Gästen verrückte Sessel in der Wohnung oder bestimmte Reize aus der Außenwelt wie z.B. eine beleuchtete Werbung auf der Straße können Zwangshandlungen auslösen. Mit bestimmten Ritualen muss die dadurch ausgelöste Spannung wieder in Ordnung gebracht werden, indem der Betroffene z.B. an der Werbung nochmals vorbeigeht oder der Sessel vom Gast in die vorherige Position zurückgestellt wird.
Ein anderes Beispiel ist die bereits erwähnte Angst vor Infektionen, die in einem Wäsche-Waschzwang ihren Ausdruck finden kann. Anfangs wechselt der Betroffene seine Kleidung, sobald er nach Hause kommt, um sich von den Bakterien der Außenwelt zu befreien. Mit der Zeit wird die Angst vor Infektionen so groß, dass er die Wohnung trotz häufigen Waschens der Wäsche nicht mehr verlassen kann. Dann erkennt er, dass auch die Wohnung mit Bakterien verseucht ist und er beginnt die Kleidung häufiger zu waschen. Schließlich wird auch die eben gewaschene Kleidung als schmutzig empfunden und sofort nochmals gewaschen – bis es keine Wäsche mehr im Schrank gibt, sondern nur mehr in der Waschmaschine. Selbst wenn der Betroffene dann nackt dasteht, empfindet er das als gefährlich, weil er ja auch ohne Kleidung infizierbar ist und von den Bakterien getötet werden kann. Was dann folgt ist der komplette Zusammenbruch.
Therapeutische Möglichkeiten
Als Behandlungsmaßnahme eignet sich bei beiden Krankheitsbildern eine Verhaltenstherapie – gegebenenfalls unterstützt durch eine medikamentöse Behandlung. Ziel der Therapie ist es, schädliche Muster zu entlernen und neue Verhaltensweisen zu trainieren. Dazu ist es oftmals erforderlich in die Tiefe zu gehen, um herauszufinden, warum sich diese Verhaltensweisen entwickelt haben.
Bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung liegt der Fokus auf der Verbesserung der sozialen Kompetenz: Der Betroffene lernt starre Gedanken und Verhaltensweisen beim Umgang mit Problemen und Menschen durch flexiblere, zielführendere Gedanken und Verhaltensweisen zu ersetzen. Zusätzlich gilt es, Gefühle besser wahrzunehmen und das Handeln stärker an Gefühlen auszurichten.
Zwängen im Rahmen einer Zwangserkrankung begegnet man am besten, indem man die Zwänge durchlebt. Beim Waschzwang muss sich der Betroffene beispielsweise zum Waschbecken stellen und sich immer wieder vorsagen „Ich weiß meine Hände sind sauber, ich brauche jetzt kein Wasser“. Erfahrungsgemäß dauert die Entwöhnung einige Zeit. Oft tritt auch eine Symptomverschiebung ein, die weniger belastend ist. Vor allem bei Zwangserkrankungen muss man meist in die Tiefe gehen und zugrundeliegende Traumata bearbeiten, um Fortschritte zu erzielen.
Fazit: Krone zurechtrücken und weitergehen
Zwang ist immer Ausdruck einer „gefrorenen Angst“. In der Therapie wird diese Angst bearbeitet und Raum geschaffen, um neue Verhaltensweisen zu ermöglichen. Der Rückfall in alte Verhaltensmuster – ausgelöst durch Stress- oder Angstsituationen – gehört zum Therapieprozess. Betroffene müssen sich dessen bewusst sein und dürfen nicht verzweifeln, wenn das Erlernen neuer Verhaltensweisen länger dauert als erwartet. Da heißt es dann „Krone zurechtrücken und weitergehen”. Die Krone sitzt oft recht schief und manchmal landet sie auch im Schmutz. Dann gilt es, die Krone wieder aufzuheben, abzuputzen, zurechtzurücken und weiterzugehen.