Das Innere Kind ist in aller Munde. Inzwischen gibt es viele Bücher und Literatur zu diesem Thema – und doch, wissen wir oft nicht, was genau eigentlich damit gemeint ist.
In diesem Artikel wollen wir einen Blick darauf werfen, was das Modell vom Inneren Kind ist, welche Anzeichen es gibt, die auf ein verletztes Inneres Kind hindeuten, und welche positiven Effekte die Beschäftigung damit und das Wissen darum bringen kann.
Zum Abschluss möchten wir Ihnen einen Leitfaden an die Hand geben, wie Sie sich Ihrem Inneren Kind als Teil eines psychotherapeutischen Prozesses oder – bei genügend Stabilität – auch bei eigenem Interesse zuwenden können, um auf diese Weise Ihre Bedürfnisse und Reaktionen besser zu verstehen und reifer und heiler zu werden. Beachten Sie auch die Kontraindikationen, wann eine Arbeit mit dem Inneren Kind nicht angezeigt ist und sogar schaden kann. Diese finden Sie am Schluss des Artikels.
Wenn Sie mehr über das Innere Kind, die Arbeit damit, Anzeichen für Verletzungen und die positiven Effekte der Inneren-Kind-Arbeit erfahren möchten, lesen Sie weiter und erfahren Sie mehr!
Was ist das Innere Kind?
Das Innere Kind (engl.: the inner child) ist ein Modell der Psychotherapie, welches die Erlebniswelt der Kindheit umfasst. Das Modell geht davon aus, dass alle Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle der Kindheit in uns abgespeichert sind und weiter unbewusst in uns wirken. Es stellt eine Vereinfachung von tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Grundannahmen dar und übersetzt diese in eine alltagsnahe, auch für Laien verständliche Sprache.
Kindliche Erfahrungen sind dem Modell nach alle noch weiter in uns. An manche erinnern wir uns, an andere nicht. Alle nehmen jedoch weiterhin Einfluss auf unser momentanes Erleben, Denken und Verhalten. Oft nehmen wir das als Intuition, Bauchgefühl oder Spontanität wahr.
Manchmal können sich diese kindlichen Erfahrungen aber auch als Grundannahmen über uns und die Welt in uns festsetzen. Man spricht in diesen Fällen auch von Glaubenssätzen. Diese können beispielsweise sein: “Ich kann mich auf andere verlassen und um Hilfe bitten.” “Ich bin ok so wie ich bin” etc. Oder im negativen Fall: “Ich muss für mich selbst sorgen, weil sich keiner um mich kümmert.” “Ich muss etwas leisten, damit ich geliebt und angenommen werde” etc.
Anhand dieser Annahmen richten wir auch als Erwachsene unser Verhalten aus, was dazu führt, dass wir sie (nach dem Effekt der Selbsterfüllenden Prophezeiung) wieder und wieder bestätigt sehen. Positive Glaubenssätze können als psychische Ressourcen dienen und uns zu einem erfüllten Leben verhelfen. Sind dagegen viele negative Glaubenssätze vorhanden, kann sich das sehr belastend auswirken und uns in unserem Leben einengen und unfrei machen.
Wir stellen dann fest, dass uns in unserem Leben immer wieder die gleichen Probleme begegnen, was ein Hinweis für unsere Themen und Verletzungen des Inneren Kindes sein kann, welche wahrscheinlich durch frühkindliche Erfahrungen von (zu) wenig emotionaler Zuwendung oder fehlender Bedürfnisbefriedigung entstanden sind.
Anzeichen, die auf ein verletztes Inneres Kind hindeuten
Es gibt verschiedene Anzeichen, die auf ein verletztes Inneres Kind hindeuten. An dieser Stelle haben wir eine Liste mit möglichen Merkmalen zusammengestellt, die eine erste Sensibilisierung für die Thematik anregen und einen eventuellen Anstoß für eine Aufarbeitung geben kann.
Wenn Sie diese kennen, wird es besser möglich, sich selbst zu verstehen, die eigenen Bedürfnisse zu ergründen und einen (geeigneteren) Umgang mit den verletzten Anteilen zu finden.
Die folgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, stattdessen soll das Augenmerk eher auf erste Signale für ein verletztes Inneres Kind und häufige auftretende Glaubenssätze gelegt werden. Diese können zum Beispiel folgende sein:
- Verletzte Gefühle, obwohl es objektiv gesehen keinen Grund dafür gibt
- Gefühle oder Verhalten sind unverhältnismäßig: Es gibt zwar einen Auslöser und Grund, aber wir reagieren dafür zu extrem oder übermäßig.
- In der Welt der Gefühle fühlt sich das richtig und stimmig an, wenn wir in einer ruhigen Minute darüber nachdenken erkennen wir aber die Überreaktion
- der Glaubenssatz “Keiner liebt mich”. Meistens ist dieser Glaubenssatz bedingt durch eine fehlende Aufmerksamkeit in der Kindheit, wofür es viele mögliche Gründe geben kann (z.B. Arbeit der Eltern, Schicksalsschläge die Aufmerksamkeit binden, längere Krankenhausaufenthalte der Eltern oder des Kindes etc.)
- der Glaubenssatz “Ich muss mir Liebe verdienen”. Kindliche Erfahrungen haben gelehrt, dass Anerkennung und Liebe nur geschenkt werden, wenn die elterlichen Erwartungen erfüllt sind (z.B. gute schulische oder sportliche Leistungen, besonders brav sein etc.)
- der Glaubenssatz “Ich muss die Wünsche anderer erfüllen”. Bei viel Kritik oder strengen Regeln und Vorgaben der Bezugspersonen kann das Kind seinen Bezug zu Forschergeist und eigenen Wünschen verlieren (es kommt z.B. zu Hobby- und Berufswahl nach elterlichen Wünschen etc.)
- der Glaubenssatz “Ich bin nicht richtig”: Dieser entsteht durch Kritik oder ablehnende Worte z.B. am Geschlecht, Aussehen, Talenten. Dafür müssen diese nicht direkt an das Kind gerichtet worden sein.
Sollte einer oder mehrere der Punkte auf Sie zutreffen, kann die Beschäftigung mit dem Inneren Kind eine Aufarbeitung anstoßen, Heilung dieser verletzten Anteile bringen und in Zukunft einen positiven Umgang mit nahestehenden Personen, Konflikten und Veränderungen fördern.
Im Folgenden wollen wir die positiven Effekte der Inneren-Kind-Arbeit genauer erläutern.
Positive Effekte der Inneren-Kind-Arbeit
Die gute Nachricht ist: Die Beschäftigung mit dem Inneren Kind kann unbewusste Denk-, Erlebens- und Verhaltensmuster in unserem Leben, die auf Grundannahmen basieren, an die Oberfläche bringen, sodass eine Bearbeitung möglich wird. Man nennt diesen Prozess auch die “Innere-Kind-Arbeit”.
Die Innere-Kind-Arbeit ist oft wesentlicher Teil eines therapeutischen Aufarbeitungsprozesses. Dabei geht der (erwachsene) Patient mit aufkommenden kindlichen Erfahrungen und Gefühlen in den Dialog und kann sie damit ins Hier und Jetzt holen und bearbeiten. Positive Erlebnisse wie auch negative Erfahrungen gelangen damit ins Bewusstsein und können (im positiven Fall) als psychische Ressource stärken und ermutigen bzw. im (negativen Fall) aufgearbeitet werden.
Im Hier und Jetzt können Betroffene aus der erwachsenen Perspektive den aufkommenden Ängsten, Traurigkeit, Gefühlen von Zurückweisung oder Verzweiflung etc., gegenübertreten, sich erneut einfühlen und diese durchleben. Dabei kann sich der Patient die (damals fehlende) emotionale Zuwendung im Nachhinein selbst geben, indem er sich seinem Inneren Kind als fürsorglicher, liebevoller Erwachsener zuwendet. Essentielle frühkindliche Bedürfnisse werden so im Nachhinein gestillt und die damit verbundenen psychischen Verletzungen können abgemildert und sogar ganz geheilt werden.
Durch die Bewusstmachung der verdrängten Gefühle können zudem bereits automatisch ablaufende, dysfunktionale Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, durch die negativen kindlichen Erfahrungen gefärbt sind, durchbrochen und gestoppt werden. Auch wenn noch keine Handlungsalternative vorliegt, kann auf diese Weise eine realistische Einschätzung und Reflexion der aktuellen Situation angestoßen werden. Verzerrte Interpretationen und Überreaktionen können damit bereits verhindert werden.
Aber Achtung: Bei der Inneren-Kind-Arbeit handelt es um eine sogenannte aufdeckende Therapiemethode. Es gelangen also möglicherweise auch schmerzhafte oder sogar traumatisierende Erinnerungen ins Bewusstsein, wofür eine gewisse psychische Stabilität erforderlich ist. Ist diese Voraussetzung (noch) nicht vorhanden, sollte mit der Inneren-Kind-Arbeit gewartet werden. Es empfehlen sich an dieser Stelle eher ressourcenorientierte, stabilisierende Interventionen.
Wie Sie mit Ihrem Inneren Kind in Kontakt kommen können – ein Leitfaden
Haben wir Interesse für die Innere-Kind-Arbeit geweckt? Dann probieren Sie es selbst aus! In diesem Kapitel möchten wir Ihnen hierzu einen Leitfaden an die Hand geben.
Wichtig ist bei der Arbeit mit dem Inneren Kind zunächst, dass Sie damit in Kontakt kommen. Dafür sind imaginative Methoden hilfreich, wobei sich die Person beispielsweise durch eine Geschichte oder angeleitete Mediationsübung in die eigene Kindheit zurückversetzt. Wichtig ist hier nicht die detailgetreue, “richtige” Erinnerung, sondern die subjektive Erinnerung des Betroffenen.
In imaginativen Interventionen können bei aufkommenden schmerzhaften Erinnerungen außerdem stützende Elemente (wie ein guter Helfer oder Retter, ein sicherer Ort etc.) eingeführt werden, was eine Überforderung oder Überflutung mit (negativen) Gefühlen verhindert.
Wenn Sie Ihrem Inneren Kind ebenfalls begegnen möchte, sich dafür interessieren oder selbst einmal einen Versuch starten möchten, können Ihnen die folgenden Schritte eine Orientierungshilfe bieten und als Leitfaden dienen:
1. Die Fähigkeit zur eigenen Veränderung wahrnehmen
In einem ersten Schritt ist es notwendig, dass Schuldzuweisungen an andere gestoppt werden, die Sie davon abhalten, selbst Verantwortung zu übernehmen und aktiv zu werden. Machen Sie sich bewusst: Sie haben es in der Hand. Sie können etwas ändern, ganz egal was in Ihrem Leben passiert ist. Sie haben die Fähigkeit dazu und sind dabei nicht abhängig von anderen. Es liegt an Ihnen.
2. Offenheit für Neues
Wie bereits erwähnt, neigen Grundannahmen dazu, sich zu bestätigen. Unser eigenes Verhalten, (aus Vorsicht, Misstrauen, Angst, Wut etc. heraus) wirkt als Selbsterfüllende Prophezeiung und lässt kaum Spielraum für neue Erfahrungen. Wenn Sie sich mit Ihrem Inneren Kind beschäftigen, kann es aber notwendig sein, die Perspektive zu wechseln, die Dinge anders wahrzunehmen und anders zu handeln. Es ist deshalb wichtig, dass Sie sich bereits im Vorhinein vornehmen, offen zu sein und Neues zuzulassen.
3. Erinnerungen zulassen
Als erster Schritt für eine Annäherung an Ihr Inneres Kind ist es hilfreich, sich zu erinnern, wer und wie Sie waren. Fragen Sie sich dazu: Was habe ich gern gemacht? Welche besonderen Fähigkeiten hatte ich? Welche Rolle habe ich innerhalb der Familie (oder im Freundeskreis, der Schule etc.) eingenommen? Welche Regeln galten zuhause, auch unausgesprochen? Welche Sprüche oder “Lebensweisheiten” habe ich oft gehört?
Hier kann es hilfreich sein, die aufkommenden Gedanken zu notieren. Seien Sie dabei ganz spontan und denken Sie nicht lange nach. Eventuell hilft es auch, eine Art inneren Dialog mit Ihrem Inneren Kind zu führen.
4. Sich einfühlen – Bedürfnisse wahrnehmen
Vielleicht kommen schon während des Erinnerns manche Gefühle oder Situationen hoch, die besonders einprägsam für Sie waren. Wenn Sie sich darin einfühlen, merken Sie möglicherweise auch schon, was sich Ihr Inneres Kind in diesem Moment gewünscht hätte. Formulieren Sie das Gefühl und das damit in verbundene Bedürfnis aus und schreiben Sie es sich auf. Versuchen Sie sich auch an Situationen als Erwachsener zu erinnern, wo sich dieses Gefühl oder das Verhaltensmuster wiederholt und machen Sie sich bewusst, welches Bedürfnis dahinter steckt.
5. Sich Neues zusprechen
Eventuell kommt auch ein negativer Glaubenssatz zum Vorschein. Formulieren Sie diesen wenn möglich ins Positive um und sprechen Sie ihn sich zu. Oder sagen Sie sich direkt: “Das stimmt so nicht”. Seien Sie an dieser Stelle geduldig mit sich. Bis das Neue verinnerlicht ist, braucht es Zeit. Und bedenken Sie auch: allein die Beschäftigung mit dem Inneren Kind kann alte Annahmen (wie “Ich bin es nicht wert” oder “Keiner sieht mich”) nach und nach beseitigen, da Sie sich Aufmerksamkeit schenken, das Bedürfnis selbst sehen und im Hier und Jetzt stillen.
6. Zurück ins Hier und Jetzt kommen
Achten Sie darauf, dass Sie sich bei all dem nicht von den Gefühlen des Inneren Kindes überwältigen lassen, sondern sich bewusst sind, dass Sie sich heute als Erwachsener diesen Verletzungen zuwenden. Damit sind Sie in einer stärkeren Position und können die (kindliche) Hilflosigkeit ablegen.
Stellen Sie sich eventuell vorher einen Wecker und geben Sie sich einen gewissen Zeitrahmen für die Übung (etwa eine halbe Stunde) und machen Sie vor allem bei Überforderung oder Überanstrengung zwischendurch eine Pause. Konzentrieren Sie sich dann auf etwas anderes, machen Sie beispielsweise eine Atemübung.
Kontraindikationen: Wann die Arbeit mit dem Inneren Kind sogar schaden kann
Bei der Arbeit mit dem Inneren Kind ist unter bestimmten Umständen Vorsicht geboten. Dies erklären wir hier genauer. Bitte beachten Sie diese Hinweise besonders, wenn Sie sich psychisch nicht stabil oder bereits anderweitig überlastet fühlen!
Bei der Inneren-Kind-Arbeit handelt es um eine sogenannte aufdeckende Therapiemethode. Es gelangen also möglicherweise auch schmerzhafte oder sogar traumatisierende Erinnerungen ins Bewusstsein, wofür eine gewisse psychische Stabilität erforderlich ist. Ist diese Voraussetzung (noch) nicht vorhanden, sollte mit der Inneren-Kind-Arbeit gewartet werden. Es empfehlen sich an dieser Stelle eher ressourcenorientierte, stabilisierende therapeutische Maßnahmen.
In manchen Fällen ist es zunächst auch wichtiger, die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung nicht dadurch zu gefährden, dass eventuell schmerzhafte Kindheitserinnerungen an die Oberfläche geholt werden. Legen Sie also einen Fokus auf die aktuellen Probleme in Ihrem Umfeld und klären Sie zuerst, ob Sie diese gut bewältigen können. Fühlen Sie dadurch schon belastet oder überfordert, gehen Sie nicht auch noch Ihr Inneres Kind an, sondern warten Sie auf eine ruhigere Phase. Bedenken Sie: Für diese Arbeit benötigen Sie einen großen Teil Ihrer Aufmerksamkeit, der aber eventuell gerade nicht zur Verfügung steht.
Und: Wenn Sie sich an gar nichts erinnern, bohren Sie nicht nach! Das Gehirn schützt Sie durch Vergessen und Verdrängen möglicherweise vor Traumas und überwältigenden Erinnerungen. In diesem Fall, wenn Sie sich von Ihren kindlichen Erinnerungen stark belastet fühlen oder traumatische Erfahrungen in Ihnen wachgerufen werden, sollten Sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, um eine Aufarbeitung anzugehen!
Fazit
Das Innere Kind ist ein nützliches Modell für die positiven und negativen Erfahrungen unsere Kindheit und unserer Prägung. Im therapeutischen Kontext kann es ebenso hilfreich sein, wie für die Anwendung und Aufarbeitung der eigenen Verletzungen interessierter Laien. Eine liebevolle Zuwendung des Erwachsenen Ihrer kindlichen Anteile gegenüber bewirkt Wunder und schon die Beschäftigung damit, bringt unbewusst ablaufende Prozesse an die Oberfläche und kann damit eine automatische Überreaktion verhindern.
Bitte beachten Sie auch die Kontraindikationen. Wenn eine Beschäftigung mit dem Inneren Kind überfordernd für Sie ist oder zu sehr belastet, versuchen Sie geduldig mit sich zu sein und erzwingen Sie nichts. Ziehen Sie in diesem Fall besser professionelle Hilfe hinzu und gehen Sie die Aufarbeitung dann erst unter Anleitung eines ausgebildeten Psychotherapeuten und in einem sicheren Rahmen an.
Ansonsten hoffen wir, Ihnen mit den dargestellten Schritten einen nachvollziehbaren Leitfaden für eine Kontaktaufnahme mit Ihrem eigenen Inneren Kind gegeben zu haben, sodass Sie bei Interesse direkt selbst mit der Inneren-Kind-Arbeit starten können.
Für die Aufarbeitung und Heilung wünschen wir Ihnen alles Gute!