Die Parentifizierung (oder “Verelterlichung”) beschreibt, wenn Kinder die Rolle von Erwachsenen übernehmen müssen, im Rahmen der Familie. Das Kind wird oft als Partnerersatz (vor allem, wenn der eigene Partner fremd geht oder einem verlässt) oder sogar als Elternersatz verwendet und muss die emotionalen und materiellen Lasten des Erwachsenen mittragen. Oft kommt dies bei alleinerziehenden Eltern vor, oder in Beziehungen zwischen Eltern, die auseinander gehen – es ist aber auch in ansonsten funktionierenden Familien möglich.
Das Kind muss vielleicht als Berater, Vertrauter, Dienstleister oder Mediator bei Streitgesprächen zwischen den Eltern fungieren. Vielleicht wird über das Kind auch ein unerfüllter Karrierewunsch oder Lebenstraum ausgelebt.
Das alles sind aber keine Kinderrollen. Kinder müssen Kinder sein dürfen und sich so entfalten dürfen, wie sie das wollen!
Ich werden Ihnen in diesem Artikel erklären, wie die Parentifizierung aufgebaut ist, wie Sie sie erkennen und welche Folgen sie hat.
Die Zeichen der Parentifizierung
Trotz klarer Definition ist Parentifizierung ist ein subtiler Prozess, der von den Betroffenen so gut wie nie erkannt wird – kein Wunder, immerhin handelt es sich oft um Kinder, die natürlich keinen Einblick in das Problem haben.
Oft sind es Menschen, die sehr empathisch sind, also sehr viel Mitgefühl für andere haben, die in diese “Falle” rutschen. Zum Beispiel werden Kinder von ständig streitenden Eltern irgendwann zu Mediatoren zwischen den Eltern bei den Streits, damit es “wieder gut wird” und laden sich damit die Bürde auf, dass wenn die Beziehung trotzdem scheitert, sie daran schuld sind, nicht die Eltern. Auch narzisstische Eltern parentifizieren ihre Kinder oft, da sie die Anerkennung und Anbetung ihrer Kinder für ihr selbst sehr geringes Selbstwertgefühl brauchen:
Und hier kommen wir auch gleich zum großen Problem der Parentifizierung: Kinder und Jugendliche werden mit derartigen Situationen massiv überfordert. Das ist wenig überraschend, immerhin gibt es Themen, mit denen Kinder einfach noch nicht in Berührung kommen sollten, so wie sexuelle Themen, existentielle Ängste, schwerwiegende emotionale, physiologische und psychologische Probleme oder Besuche in einer Anwaltskanzlei.
Dennoch kommt Parentifizierung nicht nur in zerrütteten Familien vor, es passiert leider allzu oft, dass Kinder in eine Erwachsenenrolle gedrängt werden. Vor allem passieren diese Dinge bei Eltern, die selbst dergleichen erlebt haben, über ihre eigenen Probleme nicht hinweg gekommen sind, sich selbst nie verwirklichen konnten und jetzt in dem Kind die Chance sehen, all diese Dinge zu bereinigen.
Eine Falle für die Kinder
Kinder wollen von ihren Eltern umsorgt werden. Das ist auch richtig so.
Bei der Parentifizierung steht aber dieser Wunsch in Konflikt mit einem “edleren Ziel”, nämlich dem, dass einer oder beide Elternteile das Kind “brauchen” und zwar als Erwachsener. Dadurch entsteht ein nicht auflösbarer, innerer Konflikt im Kind. Auch das gehört zur Definition der Parentifizierung.
Dieser Anspruch des Elternteils an das Kind kommt dann zustande, wenn der Erwachsene selbst nicht aus weiß, also selbst überfordert ist und sich an das Kind wendet: “Mir geht es nicht gut, ich brauche jetzt deine Hilfe, du musst mich jetzt retten/umsorgen/beschützen.”
Natürlich überfordert das das Kind sofort, zumal hier auch Informationen an das Kind weitergegeben werden, die für das Kind absolut unverständlich sind, so wie z.B. intime Details des Elternbetts oder Erwartung des Elternteils, dass das Kind den gesamten Haushalt übernimmt und gleichzeitig schulischen Pflichten nachkommt, wenn der Elternteil eine Erkrankung hat.
Stellt sich das Kind aber gegen diese Rollenumkehr, kommt es sehr häufig zu Schuldgefühlen. Immerhin ist das Kind seinen Eltern mit einem Urvertrauen verbunden und wird sich unweigerlich schuldig fühlen, wenn es die Aufgabe, die für es ja zu groß ist, nicht erfüllen kann.
Kinder, die eine Parentifizierung mitmachen, entwickeln sich oft selbst nicht weiter, weil sie ständig die Aufmerksamkeit auf andere Personen eingestellt haben, also auf die Eltern. Ständig stellt sich das Kind infrage, ob es alles richtig macht, warum es versagt, was es besser machen könnte, etc. Die eigene Persönlichkeit und das Gefühl für das eigene Ich entwickelt sich daher nie. Die eigene Gefühlswelt ist einem fremd.
Es ist also wenig verwunderlich, dass diese Kinder oft erst im Erwachsenenalter, sofern sie dort aus der Situation rauskommen, sich langsam entwickeln zu beginnen und nachzureifen beginnen.
Emotionale und instrumentelle Parentifizierung
Es gibt zwei unterschiedliche Arten und Definitionen der Parentifizierung: Die emotionale und die instrumentelle. Beide sind ähnlich, haben aber etwas unterschiedliche, zentrale Punkte.
Die emotionale Parentifizierung ist dann gegeben, wenn ein Kind emotionale Aufgaben übernehmen muss. Es muss oft als Berater oder gar Psychotherapeut herhalten:
- Das Kind soll Partei für eine Seite der Elternteile ergreifen.
- Es soll Streits schlichten und vermitteln.
- Der Nachwuchs wird als Ersatz für den eigentlichen Partner hergenommen.
Instrumentelle Parentifizierung lässt ein Kind Aufgaben übernehmen, für die es nicht geeignet ist:
- Das Kind muss sich um (psychisch) kranke oder um sehr alte Angehörige kümmern (beides ist für einen jungen Geist überwältigend).
- Es muss eventuell jüngere Geschwister vollkommen auf sich gestellt versorgen.
Egal, welche Art der Parentifizierung zutrifft, das Kind wird unweigerlich Schäden an seiner Persönlichkeit dadurch davontragen.
“Es ist nur zu deinem Besten.”
Diese Aussage vermischt sich oft mit dem emotionalen Missbrauch, vor allem in Kombination mit der Parentifizierung. Es ist ein prekäres Thema, das aber bitte nicht dazu als Ermunterung gesehen werden soll, dass man seine Eltern vernachlässigen und nicht respektieren soll. Entscheidend ist, dass der Respekt von beiden Seiten da sein muss.
Sie kommt oft von Eltern, die selbst unterdrückt und parentifiziert wurden und sich nie selbst ausleben konnten.
Schauen wir einmal genauer hin, wann die Aussage ein Problem ist:
- “Wir meinen es ja nur gut mit dir.” Das Meinen ist zwar vielleicht nett, aber wie Eltern auf ihre Kinder wirken, ist entscheidend.
- Eltern machen Kinder Vorwürfe, wenn diese ihren eigenen Weg gehen wollen, weil sie nicht das tun, was die Eltern sich vorgestellt haben. “Ich meine es doch nur gut, wenn ich sage, du sollst Medizin und nicht Literaturwissenschaften studieren, damit es dir gut geht und du es besser hast.” Das ist aktives Unterdrücken der Wünsche des Kindes.
- Belohnungsversprechungen sind auch sehr gefährlich. “Wenn du jetzt das für uns machst/auf diese Sache in deinem Leben verzichtest, dann bekommst du Geld/Vertrauen/Lob von uns.”
- Eltern wollen Gegenleistungen für das, was sie als Eltern geleistet haben. “Wir haben uns jetzt so lange um dich gekümmert/dich durchgefüttert, da ist es doch nicht zuviel verlangt, dass du etwas für uns machst! Weil du das nicht tust, bist du egoistisch/herzlos!” Als Elternteil muss einem klar sein, dass mit einem Kind gewisse Verpflichtungen entstehen, die das Kind nicht zurückzahlen muss. Immerhin hat es sich nicht ausgesucht, geboren zu werden.
Das “Gute”, das also von den Eltern hier “gemeint” wird, ist, die eigenen Interessen – und NUR diese – durchzusetzen und dabei die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes hintan zu stellen. Oft fühlen sich solche Eltern auch vom Glück der Kinder bedroht, wenn die Kinder, die ja Therapeuten, Mediatoren, Psychotherapeuten, Haushälter der Eltern sind, auf einmal nicht mehr da sind, weil die Eltern sich dann alleine um sich selbst kümmern müssen. “Wie kannst du mir das antun, wie kannst du mich da in dieser Situation alleine lassen” sind häufige Vorwürfe.
Kinder, egal ob jung oder erwachsen, müssen aber diese Aufgaben nicht übernehmen. Als Eltern muss man für sich selbst zuständig sein können und nicht diese Dinge auf das Kind abwälzen.
Falsch gesetzte Grenzen
Natürlich ist es in den jungen Jahren der Kinder in Ordnung, gewisse Grenzen zu setzen, wie z.B. Ausgehzeiten, Suchtmittelkonsum, gefährliche oder waghalsige Verhaltensweisen, etc. Aber hier gibt es ebenfalls Grenzen und zwar dort, wo die Entwicklung eingeschränkt wird.
Beispiele: Jugendliche sollten sich die Schule aussuchen dürfen, auf die sie gehen wollen und sich selbst in die Richtung ausbilden, die sie interessiert. Kinder sollten sich ihre Freunde aussuchen dürfen, oder ausdrücken dürfen, was Ihnen Spaß macht, was sie gerne essen, etc.
Aussagen wie “Du hast dich zuerst um uns zu kümmern und dann erst um dich, denn sich um die Eltern zu kümmern ist das wichtigste Ziel im Leben.” oder “Du musst uns gegenüber loyaler als deinem Partner sein.” werden damit auch verbunden. Zwar ist es schon gut und sinnvoll, sich um seine Eltern zu kümmern, aber wenn das von den Eltern ausgenutzt wird und die Grenzen des Kindes nicht respektiert werden, dann kippt das Bild.
Mit obigen Aussagen wird vermittelt: “Wir sind deine Eltern, wir meinen es immer gut mit dir, bleib bei uns und es wird dir gut gehen. Wende dich von uns ab und du wirst Probleme bekommen – mit uns und der Welt.” Das vermittelt dem Kind natürlich das Gefühl, dass es nur durch die Hilfe der Eltern im Leben weiterkommen wird und selbst nichts erreichen kann. Das ist ein Aspekt, der in den emotionalen Missbrauch hinein rutscht.
Natürlich ist auch Folge davon, dass das Kind es schwer haben wird, eine erfolgreiche Beziehung zu führen oder einen Job so zu machen (oder den Job zu machen), wie es möchte. Scheitern ist daher häufig und diese Kinder gehen dann zu ihren Eltern und in das Abhängigkeitsverhältnis zurück. Dann werden die Worte der Eltern zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Los zu lassen ist also für das Kind fast unmöglich, da es sich den Eltern immer verpflichtet fühlt. Versucht es, sich zu lösen, wird es mit Schuldgefühlen klein und schwach gehalten.
Die Folgen der Parentifizierung
Kinder, die Opfer der Parentifizierung sind, werden aus dem Kindsein gerissen und müssen sich plötzlich über “wichtigere Dinge” Gedanken machen, um die elterliche Liebe und Anerkennung, die es braucht, zu bekommen.
Da ist es wenig verwunderlich, dass die Folgen davon das ganze Leben dieser Kinder beeinflussen. Sie können sich meistens nicht entfalten und entwickeln, weil sie Aufgaben ausführen müssen, die für sie viel zu groß sind.
Mit Autorität können diese Kinder ironischerweise oft schlecht umgehen. Jede Autoritätsperson außer der, die parentifiziert hat, wird als Feind gesehen, weil es leichter ist, sich andere Feindbilder zu suchen als das Problem anzugehen, das eigentlich besteht.
Eine der Folgen der Parentifizierung ist auch, dass diese Kinder oft zu Erwachsenen werden, die immer für alle da sein wollen und immer für alles zuständig sein wollen. Das nennt man Überverantwortlichkeit. Wenn Sie sich selbst sagen, dass Sie jetzt einmal vor allen anderen wichtig sind und sich das selbst glauben können ohne schlechtes Gewissen, dann fallen Sie nicht in diese Kategorie. Kommt da Magengrummeln auf, so sollten Sie eventuell darüber nachdenken, sich dahingehend genau zu beobachten.
Perfektionismus ist ebenfalls meistens eine der Folgen der Parentifizierung, da diese Kinder immer darauf getrimmt wurden (und unweigerlich sich auch selbst darauf getrimmt haben), immer alles richtig zu machen. Es gibt ständig unmöglich erfüllbare Ziele und das Kind wächst mit dem Gefühl auf, dass es nie gut genug ist, dass es immer etwas besser machen könnte oder muss.
Hand in Hand geht hier die Selbstisolation. Das Kind hat keine Zeit, kindgerechte Dinge zu tun und Freundschaften zu pflegen, was die Parentifizierung wiederum anheizt, weil das Kind niemanden sonst hat, an den es sich wenden kann. Dazu kommt dann eine gewisse Starre, weil das Kind gerne eine Änderung des Zustands hätte, ihn aber nicht bewirken kann. Und da es immer noch sich selbst für andere aufgeben muss, lernt es nie, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen – und zu kennen.
Diese Menschen müssen aus dieser Beziehung ausbrechen oder geholt werden, um die Möglichkeit zu bekommen, sich selbst kennen zu lernen und diese krankhafte Beziehung außen stehend verstehen zu lernen. Denn vielen parentifizierten Kindern fällt die Natur ihrer Beziehung zu ihren Eltern nicht auf – auch im Erwachsenenalter nicht.
Fazit
Parentifizierung ist ein Begriff, der eine sehr breite Definition hat, weil er in unterschiedlichen Formen auftritt. In jedem Falle handelt es sich aber um eine Rollenumkehr zwischen Kind und Eltern, die krankhaft ist und Behandlung bedarf, da die Folgen für die Betroffenen immer schwerwiegend und lebenseinschränkend sind.