Männliche und weibliche Akzente im Phänotyp der Borderlinestörung
Lange Zeit galt die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) als typisch weibliche psychiatrische Erkrankung (vgl. Banzhaf 2011). Neuere Studien zeigen, dass die BPS in der Allgemeinbevölkerung bei Männern und Frauen in etwa gleich häufig vorkommt. Die vielfältigen Erscheinungsbilder dieser Störung weisen aber darauf hin, dass es den „typischen Borderliner“ nicht gibt – daher ist es weder sinnvoll noch seriös, einen typisch männlichen oder typisch weiblichen Borderliner zu charakterisieren.
Untersuchungen über Geschlechterunterschiede sind daher auch rar. Dennoch gibt es Hinweise auf eine unterschiedliche Ausgestaltung des Störungsbildes bei Männern und Frauen, hauptsächlich aufgrund von geschlechtsdifferenten frühkindlichen Bindungserfahrungen, Erziehungsstilen, sozio-kulturellen Umwelteinflüssen und milieubedingt erlernten Geschlechterrollenmustern.
Die allgemeine Annahme, dass vorwiegend Frauen von der BPS betroffen seien, ist vor allem auf die Tatsache zurück zu führen, dass weibliche Patienten generell häufiger ambulante bzw. stationäre psychiatrische Hilfe aufsuchen als Männer. Männer mit BPS sind hingegen öfter in forensischen Kliniken oder Gefängnissen anzutreffen. In diesen Einrichtungen stellt die BPS nach der antisozialen Persönlichkeitsstörung die zweithäufigste Persönlichkeitsstörungsdiagnose dar (vgl. Banzhaf 2011).
Entsprechend den bisherigen Untersuchungen zu Geschlechtsunterschieden zeigt sich, dass Frauen mit BPS signifikant höhere Werte in den DSM-V-Kriterien der BPS „Instabilität des Selbstbildes – Identitätsstörung“, „Affektive Instabilität“ und „Paranoides Erleben – Dissoziation“ aufweisen (ebd. 2011).
Weibliche Akzente der BPS
Die Identitätsdiffusion gilt nach Kernberg als das Kernkriterium der BPS (Schlüter-Müller 2015). Erikson beschreibt Identität als ein Gefühl von Kontinuität innerhalb des eigenen Selbst und in der Interaktion mit anderen (Schmeck, Schlüter-Müller 2009) Betroffenen fehlt die Integration des Konzeptes von sich selbst und bedeutsamen Anderen. Sie leiden unter einer mangelnden Kohärenz (Wer bin ich in unterschiedlichen Situationen?) sowie einem Verlust der Kontinuität über die Zeit hinweg (Schlüter-Müller 2015).
In der therapeutischen Arbeit, die viel Zeit und Geduld braucht, ist dieser Bereich der wesentlichste und für Patienten der herausforderndste. Die dysfunktionale Affektregulation zeigt sich bei Betroffenen in einer hohen Sensitivität gegenüber emotionalen Reizen. Ihr Erregungsniveau ist ausgesprochen hoch, weshalb sich eine hohe Reaktivität auf bereits schwache Reize zeigt. Das emotionale Ausgangsniveau wird nur verzögert erreicht (Schlüter-Müller 2015).
Im Alltag bedeutet dies, dass Betroffene schnell „hochgehen“ und das – zumindest für Angehörige – offensichtlich aus nichtigem Anlass. Von diesem hohen emotionalen Level kommen sie nur schwer wieder auf den Boden zurück. Die Frustrationstoleranz ist gering, sie hängt auch mit dem Selbstwert zusammen, der geschlechtsspezifisch unterschiedlich, je nach Kultur, Umwelterfahrung und Erziehung ausgeprägt sein kann. Die Eigenschaft der Hochsensibilität ist hier vor allem bei Frauen mit zu bedenken.
Paranoide Vorstellungen oder dissoziative Symptome können bei Menschen mit BPS vorübergehend durch Belastungen ausgelöst werden. Es fällt den Betroffenen schwer Vertrauen aufzubauen. Phasenweise misstrauen sie jedem. Besonders in Krisen ist es meist unmöglich, an sie heran zu kommen. In dissoziativen Zuständen haben sie oft das Gefühl, sich wie in einem Film aus der Perspektive eines Dritten zu beobachten. Sie haben keinen Bezug mehr zu sich und ihrer Umwelt. Nicht seltensuchen sie sich durch Selbstverletzung aus diesen Zuständen zu befreien. Durch den Schmerz bekommen sie wieder Bezug zu ihrem Körper und somit zu sich selbst (grenzwandler.org).
Männliche Akzente der BPS
Im Vergleich zu den geschlechtsspezifischen Akzenten bei Frauen mit BPS zeigen Männer höhere Scores im Kriterium „Wutausbrüche“. Bezüglich des Kriteriums „Impulsivität“ zeigt sich lediglich ein Trend derart, dass Männer mit BPS höhere Werte als Frauen aufwiesen (Banzhaf 2011). Borderliner erleben häufig starke Wutanfälle und haben Schwierigkeiten, diese im Zaum zu halten. Sie fühlen sich von den extrem und plötzlich auftretenden Gefühlen überschwemmt und reagieren oft impulsiv und der Situation unangemessen intensiv.
Zwischenmenschlich entstehen heftige Konflikte bis hin zu Handgreiflichkeiten (grenzwandler.org). Männer wandeln auch ihre Trauer häufig in Wut um. Frauen gestehen sich Wut mehrheitlich nicht zu und flüchten deutlich öfter in Selbstabwertung (ebd. 2011) oder Depression. Die Störung der Impulskontrolle manifestiert sich als überdauerndes Muster an selbst- und fremdschädigenden Verhaltensweisen. Gewöhnlich liegen habituierte Verhaltensmuster bereit, auf die in spannungsreichen situativen Konstellationen schnell und unreflektiert zurückgegriffen wird. Diese Impulshandlungen stellen einen maladaptiven Bewältigungsversuch von negativen emotionalen Verfassungen dar.
Stressoren werden nicht bewältigt, sondern eine Impulshandlung soll zur prompten Entlastung von Affekterregungen führen (Herpertz und Saß 1997). Impulsive Verhaltensweisen können z.B. suizidale oder selbstverletzende Handlungen, bulimische Ess-/Brechattacken (bei Männern und Frauen gleichermaßen!), episodische Alkohol- und Drogenexzesse, Glücksspiele, übermäßiges Geldausgeben, Substanzmissbrauch, risikoreiches Sexualverhalten, rücksichtsloses Fahren, etc. sein.
Geschlechtsspezifische komorbide Störungen der BPS
Prinzipiell können bei der BPS alle psychiatrischen Störungen zusätzlich auftreten. Typischerweise gibt es häufig einen Wechsel der Symptome: depressive Phasen, zwanghaftes Verhalten, Suizidalität, Selbstverletzung, antisoziales Verhalten, Dissoziation, etc. wechseln ab (Dulz 2016). Die hohe Rate der Komorbiditäten bei der BPS prägt die individuelle Ausgestaltung der Störung und erschwert die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen
Borderlinern noch zusätzlich (grenzwandler.org).
Frauen mit BPS zeigen auf der Achse I häufiger affektivekomorbide Störungen (Depressionen, Angststörungen, somatoforme Störungen, Essstörungen, etc.) als Männer. Frauen scheinen Distress zu „internalisieren“, d.h. sie richten den Stress nach innen und sind somit gefährdeter für affektive Störungen. Männer hingegen „externalisieren“ Distress, richten ihn nach außen und neigen vermehrt zur Entwicklung von Substanzmissbrauch, insbesondere Alkoholmissbrauch.
In Bezug auf Achse-II-Störungen wird deutlich, dass Frauen mit BPS zur histrionischen und selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung neigen. Männer zeigen häufiger eine antisoziale Persönlichkeitsstörung sowie Trends in Richtung passiv-aggressive, narzisstische, paranoide und schizotype Persönlichkeitsstörung. Das relativ hohe Vorkommen narzisstischer und antisozialer Persönlichkeitsstörungen sowie komorbider Suchterkrankungen bei Männern könnte auch eine Rolle für die höhere Abbruchrate der begonnenen Therapien spielen (Banzhaf 2011).
Therapeutische Alltagserfahrung und existenzanalytischer Zugang
In der therapeutischen Alltagserfahrung gibt es wahrnehmbare Hinweise auf eine unterschiedliche Ausgestaltung des Störungsbildes bei Männern und Frauen. Dies beruht wohl hauptsächlich auf geschlechtsspezifisch unterschiedlichen frühkindlichen Bindungserfahrungen zwischen ambivalent gebundenen und unsicher gebundenen, aber auch unterschiedlichen Erziehungsstilen zwischen Vernachlässigung und Verwöhnung, was intrapsychisch den gleichen nachteiligen Effekt hat.
Weiters sind durch soziokulturelle Umwelteinflüsse und geprägte Geschlechterrollenmuster im jeweiligen Milieu Unterschiede zu erkennen: Frauen sind tendenziell eher autoagressiv, Männer brutaler und gewalttätiger als Frauen. Die Frustrationsintoleranz wird unterschiedlich ausgelebt, bei Frauen eher ohnmächtig, depressiv und/oder autoaggressiv, bei Männern eher selbstverletzend, destruktiv, aggressiv nach außen, jedenfalls brutaler und mit weniger bewusster Emotion.
Bei jeder Patientin, bei jedem Patienten ist immer wieder individuell durch phänomenologische Betrachtung zu erhellen, ob sich in der jeweils weiblichen oder männlichen Art des Ausagierens, der Impulskontrollstörung, des selbstschädigenden Verhaltens, der Regression sowie der Beziehungsdynamik geschlechtstypische Modi zeigen. Wenn ja, ist darauf individuell einzugehen, um der Person gerecht zu werden. In der existenzanalytischen Theorie sehen wir die BPS als eine Störung auf der Ebene des Selbst (3. Grundmotivation). Somit liegt der Fokus der therapeutischen Haltung insbesondere darin, die Person in ihrer Einmaligkeit und Individualität zu sehen, ernst zu nehmen und ihr zu begegnen.
Geschlechtsspezifische Unterschiede der Persönlichkeitsstörung
Mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden im Ausdruck der Borderline-Dynamik und daraus resultierender Dynamik in der Übertragung insbesondere zur/m gegengeschlechtlichen Therapeutin/Therapeuten ist diese/r gefordert umzugehen. Es bedarf eines Akzeptierens und Aushaltens im Sinne der ersten Grundmotivation und eines unumstößlichen In-Beziehung-Bleibens im Sinne der zweiten Grundmotivation. Dies bildet die Basis für Begegnung und ein personales Umgehen mit aufkommenden Dynamiken für Patient/in und Therapeut/in, sodass die Therapie nicht gefährdet wird und Raum für Nachreifung auf allen Ebenen gegeben ist.
Der Therapeut/die Therapeutin ist die zentrale Bezugsperson, durch die der /die Borderline –Patient/in Vertrauen, Halt, Beziehungsbeständigkeit und Selbstwert erfahren und entwickeln kann. Eingebettet in eine solchermaßen verlässliche, klar begrenzte und begrenzende, begegnende therapeutische Beziehung kann die generierte geschlechtsspezifische Spannung sowohl für den therapeutischen Prozess als auch für das alltägliche Leben nutzbar gemacht werden.
Zusammenfassung: Persönlichkeitsstörung Borderline
Aus existenzanalytischer Sicht geht es also darum, die geschlechtsspezifisch und individuell unterschiedlichen Weisen im Ausdruck der BPS, betreffend Störungen der Impulskontrolle, selbstschädigendes Verhalten, der Regressionen sowie der Beziehungsdynamiken phänomenologisch zu betrachten und abgestimmt auf die jeweilige Person und ihre Lebensgeschichte zu bearbeiten. Das Aushalten von und Umgehen mit Widersprüchlichkeiten ist die Basis, um auch die geschlechtsspezifische Spannung für den therapeutischen Prozess und das alltägliche Leben nutzbar zu machen.
Quellen:
Banzhaf A (2011). Dissertation: Geschlechterunterschiede bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Medizinische Fakultät Charité – Universitätsmedizin Berlin
Dulz B (2016). Vortrag „Persönlichkeitsstörung: Borderline-Syndrom“,
URL: https://www.youtube.com/watch?v=CMl5uCoRLTo&spfreload=10 (abgerufen am 15.4.2017)
Herpertz S & Saß H (1997). Der Nervenarzt: Impulsivität und Impulskontrolle. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag
Schmeck K & Schlüter-Müller S (2009). Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter. Heidelberg: Springer Medizin Verlag
Schlüter-Müller S (2015). Die Kooperation mit Jugendhilfeeinrichtungen als fester Bestandteil der AIT-Behandlung von Jugendlichen mit Persönlichkeitsstörungen: 11. Fachtagung Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter.
URL: http://www.grenzwandler.org (abgerufen am 15.4.2017)